Schon im Mittelalter war die Weinbergschnecke eine wertvolle Proteinquelle für alle Gesellschaftsschichten. Bei Kaiserschnecken, einem Zuchtbetrieb im Tiroler Unterland, sieht man in den Tieren auch eine Delikatesse mit Zukunftspotenzial.
Text: Theresa Kirchmair
Wer Schnecke hört, wird zunächst kaum an ein geschätztes Nutztier denken. Zu sehr dominiert das Bild der Nacktschnecke, die sich im Garten auf frische Pflänzchen stürzt. Mit ihr haben die Weinbergschnecken, die auf Simone Embachers Schneckenfarm ihre Runden ziehen, wenig gemein. „Die Engländer und die Franzosen unterscheiden zwischen der Speiseschnecke und der Nacktschnecke, da wird schon vom Vokabular her differenziert“, erklärt die Gründerin von Kaiserschnecken.
Köstlichkeit für alle
Die mediterranen Weinbergschnecken, die Embacher auf ihrer Farm züchtet, sind für Gastronomie und in kleinerem Maße für Endverbraucher bestimmt. Während einheimische Weinbergschnecken erst nach drei Jahren die Geschlechtsreife und damit Erntealter erreichen, können ihre mediterranen Verwandten schon nach einem Jahr verarbeitet werden. Im Geschmack könne man praktisch keinen Unterschied feststellen, erklärt Embacher. So wie eine Muschel nach Meer schmecke, hätten Weinbergschnecken das Aroma des Waldes.
Die Idee, mit Kaiserschnecken ihre eigene Zucht aufzubauen, kam Embacher 2017, nachdem sie in einem österreichischen Gourmetmagazin darüber gelesen hatte. Sie führte damals gemeinsam mit ihrer Schwester das Weinatelier Agnes, das neben Wein auch Offenheit für kulinarisch Neues bot. Die lange Geschichte der Speiseschnecke als Proteinquelle faszinierte Embacher: Im Mittelalter war sie bei Armen ebenso beliebt wie an den Adelshöfen, durch ihre klimafreundliche Zucht erhält sie zusätzliche Relevanz in der Moderne.
Learning by doing
Wie sie ihren Schnecken eine naturnahe Umgebung bieten kann, musste die Unternehmerin erst herausfinden. „Als ich angefangen habe, konnte man nicht einfach googeln ,Wie züchte ich Schnecken?‘“, erzählt sie. Sie besuchte ein Schneckenzuchtseminar in Wien und kaufte sich 2019 ihre ersten 500 Stück. Die erlernten Methoden musste sie erst auf die Tiroler Bedingungen abstimmen, denn rauere Winter, kältere Nächte und eine andere Luftfeuchtigkeit als im Osten Österreichs erforderten Anpassungen. Grundsätzlich ist Tirol für die Schneckenzucht aber gut geeignet, etwa wegen des Kalks im Boden, den die Tiere für ihre Häuser brauchen. Im ersten Winter besorgte sich Embacher ein Terrarium und studierte das Verhalten ihrer neuen Mitbewohnerinnen stundenlang daheim.
Auf leiser Sohle
Heute liegt Embachers Schneckenfarm oberhalb von Ellmau auf einem Hochplateau mit Blick auf den Wilden Kaiser. Das Gelände ist umzäunt und mit einem feinen Netz überspannt, um Fressfeinde wie Mäuse und Vögel fernzuhalten. In den Gehegen wachsen allerhand Kräuter, an denen sich die Weinbergschnecken gütlich tun könnten. Interessanter ist für die Tiere allerdings das Angebot auf den erhöhten Futtertischen, die Embacher wöchentlich mit Obst- und Gemüseresten befüllt. Weinbergschnecken ziehen anders als Nackt- oder Gartenschnecken Verwelkendes vor, die Reste aus einem lokalen Supermarkt sind da gerade recht. Neben Pflanzen und Futtertischen bieten unbehandelte Holzbretter den Schnecken Abwechslung, dort können sie vor Räubern am Boden Schutz suchen. Da ihnen feuchte Bedingungen am liebsten sind, kommen sie meist in den Abendstunden in Bewegung und an die gedeckte Tafel. „Dann sind viele Schnecken beim Fressen und man hört sie richtig schmatzen“, erzählt Embacher amüsiert.
"Ich glaube dass kein Nutztier bei uns schonender stirbt."
Simone Embacher
Sanftes Ende
Die nicht winterharten Schnecken werden im Herbst gesammelt und zum Überwintern in ein Kühlhaus gebracht. Ab acht Grad Außentemperatur hören die Tiere auf zu fressen und verschließen ihr Haus mit einer dünnen Membranhaut – so bereiten sie sich für den Winterschlaf vor. Aus diesem werden die zum Verzehr bestimmten, mindestens ein Jahr alten Tiere nicht wieder erwachen. Wie gesetzlich in Österreich vorgeschrieben, werden sie noch im Tiefschlaf durch ein Bad in kochend heißem Wasser getötet. „Ich glaube, dass kein Nutztier bei uns schonender stirbt“, so Embacher.
Nach dem Kochen entfernt sie jede Schnecke aus ihrem Haus und trennt das Muskelfleisch vom Eingeweidesack, den die Tiere auf dem Rücken tragen. Anschließend werden die Schnecken gründlich gewaschen und lange bei geringer Temperatur in Gemüsefond gekocht, ähnlich wie bei Oktopus- oder Tintenfischfleisch. In Gläsern oder Beuteln abgepackt gehen die Kaiserschnecken dann an Haubenrestaurants, Gasthäuser und Endverbraucher.
"Für mich ist das Schlagwort Klimatarier. Dass ich nur noch das und bewusst esse, was dem Klima guttut oder zumindest nicht schadet."
Simone Embacher
Berührungsängste abbauen
Embacher bietet Führungen auf ihrer Schneckenfarm an und hat immer wieder Gäste, die dem Verzehr bestenfalls skeptisch entgegenblicken. Um Hemmschwellen abzubauen, greift sie bei der Verkostung auf einen Trick zurück. Sie stellt zwei Gerichte bereit, wobei die Schnecke im ersten als solche nicht erkennbar ist. Damit sinkt die Hürde, zu probieren. Ist das gelungen, steht das zweite Gericht mit erkennbarem Schneckenanteil bereit.
„Es ist nach wie vor ein Nischenprodukt“, so Embacher. Gerade der ökologische Vorteil springt aber ins Auge, tierisches Protein auf Schneckenbasis verbraucht ungleich weniger Ressourcen und erzeugt
praktisch keine CO2-Emissionen im Vergleich zu Rindfleisch. „Für mich ist das Schlagwort Klimatarier. Dass ich nur noch das und bewusst esse, was dem Klima guttut oder zumindest nicht schadet“, erklärt sie.
Langsam wachsen
Kaiserschnecken startete 2019, gleich im zweiten Jahr musste sich Embacher mit den Auswirkungen der Pandemie auseinandersetzen. Ihre Hauptabnehmer, die Restaurants, hatten geschlossen. Gleichzeitig kamen zwei Trends ins Rollen, die sie für ihre Nische als konstruktiv sieht: Die Verantwortlichen in den Küchen hatten Gelegenheit, über neue kulinarische Pfade nachzudenken, und es entstand ein starker Fokus auf regionale Lebensmittel. Neben der klassischen Zubereitung mit Kräuterbutter gibt es zahlreiche Neuinterpretationen, von der Verwallstube bis zur Rauterstube experimentieren Embachers Kunden mit den Schnecken.
2022 war das erste Jahr, in dem Restaurants wieder mit voller Kapazität arbeiten konnten. Das brachte Embacher dazu, über eine vorsichtige Expansion nachzudenken. Über Kontakte aus ihrem früheren Berufsleben kamen schon Anfragen von der französischen Côte d’Azur, doch hier ging für sie der Nachhaltigkeitsgedanke verloren. Der ist ihr wichtig: „Ich habe das Gefühl, ich hätte etwas Sinnvolles erreicht, das von anderen geschätzt wird.“
© Simone Embacher, Johannes Rofner